European Championships: Gold für Lückenkemper und Kaul
Von Johannes Knuth
So ein Gespür muss man auch erst einmal haben: den großen Moment, der kurz bevorsteht, zu antizipieren, vielleicht sogar heraufzubeschwören. Viele der rund 40 000 Zuschauer erhoben sich am Dienstagabend, um kurz nach 20 Uhr, jedenfalls von ihren Sitzen, als der Zehnkämpfer Niklas Kaul vom USC Mainz für seinen dritten Versuch im Speerwurf bereitstand. Es war, als wollten sie ein warmes Kissen der Zuneigung auf den Rasen hinunterschicken, auf dass Kauls Speer darauf gleich besonders segeln würde. Und wie der Speer dann segelte.
Kaul wusste es sofort, natürlich. Erst jubelte er als fleischgewordene Christusstatue, dann, als er die Weite sah – 76,05 Meter, weiter hat noch nie ein Zehnkämpfer bei Europameisterschaften geworfen – gab er den Flitzer vor der Kurve. Das Publikum sang einfach weiter, als die Stadionregie das obligatorische “Oh, wie ist das schön” abgedreht hatte.
Irgendetwas war gekippt in diesem Moment, und da wirkte es fast schon zwangsläufig, dass Kaul dem Schweizer Simon Ehammer später dessen Führung und den EM-Titel im abschließenden 1500-Meter-Lauf noch entreißen würde.
“München wird ab jetzt einen ganz, ganz speziellen Platz in meinem Herzen haben”, sagt der Europameister
Der Dienstagabend war als großer deutscher Stimmungsmacher ausgeschrieben bei diesen Leichtathletik-Europameisterschaften, und das Publikum und die Athleten, nicht nur die der Gastgeber, enttäuschten nicht. Bis auf wenige Plätze fand man nicht viele Lücken im Rund, Sommerhitze lag noch dicht über dem Olympiapark, und so war alles bereitet für den ersten richtig stimmungsvollen Abend dieser Leichtathletik-Titelkämpfe: für die Silbermedaille von Diskuswerferin Kristin Pudenz, Gina Lückenkempers Bronzemedaille, die sich auf den letzten Metern auf dramatische Weise in eine goldene verwandelte.
Und dann war da natürlich noch der Europameistertitel von Niklas Kaul, der das Publikum in seiner ersten Ansprache gleich mit zu Goldgewinnern ausrief: “München wird ab jetzt einen ganz, ganz speziellen Platz in meinem Herzen haben”, sagte er: “Emotional ist der EM-Titel noch viel mehr wert als der WM-Titel. In diesem Jahr lief bisher ja nicht so viel zusammen.”
Der Tag hatte schon stimmungsvoll begonnen aus deutscher Sicht, Christopher Linke hatte über 35 Kilometer Gehen die vierte deutsche Medaille am zweiten Tag der Langstreckenwettbewerbe durch die Innenstadt gewonnen. Das Glück lag für den DLV bis hierher wahrhaftig auf der Straße, und Linke, 33, stand auch stellvertretend für das Ressort der deutschen Geher, das seit Jahren starke Arbeit verrichtet. Er war bis zuletzt immer nahe an den Weltbesten gewesen, immer auch knapp an den Hauptgewinnen vorbei, die die Aufmerksamkeit erst so richtig auf den Athleten lenken.
Während der Weltmeisterschaften in Eugene dann: Corona-positiv, wieder nichts. “Ich denke”, sagte Linke später, “dass das Geheimrezept heute war, dass ich locker rangegangen bin und mir anders als in der Vergangenheit überhaupt keinen Druck gemacht habe, unbedingt eine Medaille holen zu müssen.” Und dann klappte es, einfach so.
Die Abend-Session im Olympiastadion rollte zunächst noch ein wenig wechselhaft los, von den zuletzt so prämierten deutschen Sprinterinnen und Sprintern schaffte es nur Gina Lückenkemper ins Finale. Die La-Ola-Welle schwappte aber auch so ganz ordentlich durchs Rund, ein Stadion feierte die Athleten und auch ein bisschen sich selbst. Mitten in den Triumph des Norwegers Jakob Ingebrigtsen über 5000 Meter schob sich Kristin Pudenz auf die erste Stelle im Diskuswurf, 66,93 Meter, das war auch für die Kroatin Sandra Perkovic eine ordentliche Knobelaufgabe.
Gina Lückenkemper sorgt für die finale Pointe
Aber der Konter der zweimaligen Olympiasiegerin kam dann doch noch, mit 67,95 Metern – und wäre fast doch nicht genug gewesen, weil Pudenz ihre Bestleistung umgehend auf 67,87 Meter schraubte. Für Perkovic war es der sechste (!) EM-Titel – und für die Potsdamerin so oder so eine gewaltige Entschädigung, nachdem sie bei der WM in Eugene unter der Last der Erwartung noch zusammengeklappt war. Ein wenig ging dabei sogar unter, dass Claudine Vita, in Eugene schon stark als Fünfte, mit 65,20 Metern ihre erste internationale Medaille bei den Aktiven gewann.
Kauls Aufholjagd, der bis dato größte Bringer des Abends, war da gerade erst aktenkundig. Dabei hatte das Projekt am zweiten Tag gestockt, Kauls Diskuswurf (41,80) war schlecht, Ehammer stieß die Tür mit dem Speerwurf (53,46) aber wieder auf, was Kaul mit seinem donnernden Wurf dankend annahm. Die Taktik für die 1500 Meter war nun recht einfach, Kaul musste so nah wie möglich an seine Bestzeit von 4:13,81 Minuten herankommen, Ehammer durfte die 4:42 Minuten, die er vor zwei Jahren mal schaffte, nicht zu arg verbessern.
Und während sich der Schweizer artig an dieses Skript hielt, in 4:48,72 Minuten, wurde Kaul während seines langen Steigerungslaufs einfach nicht langsamer. 4:10,04 Minuten, das war auch für seine Verhältnisse eine fantastische Steigerung. 8545 Punkte reichten ihm am Ende, Ehammer schaffte noch immer einen Landesrekord, mit 8468 Zählern. Als sie das Ergebnis im Stadion durchsagten, wackelte die ehrwürdige Zeltkonstruktion bedenklich.
Und das nicht zum letzten Mal. Denn die finale Pointe wollte es, dass Gina Lückenkemper, die bis zum Vorjahr noch in einem gar nicht so kleinem Verletzungstal steckte, sich ihr Können für den Höhepunkt aufgehoben hatte, wieder einmal. Links und rechts sammelte sie im 100-Meter-Finale die etwas höher geschätzte Konkurrenz ein, die Polin Ewa Swoboda, die Britinnen Dina Asher-Smith (die verletzt aus dem Rennen stolperte) und Daryll Neita, die Schweizerin Mujinga Kambundji, die schon wie die Siegerin aussah, ehe Lückenkemper ihre rechte Schulter noch ins Ziel schob: 10,99 Sekunden, Saisonbestzeit, ihre erste EM-Goldmedaille im Einzel. Fünf Tausendstelsekunden (!) vor der Schweizerin.
Wie sie das angestellt habe? “Ich weiß es ehrlich gesagt nicht”, rief Lückenkemper ins Stadionmikrofon. Die restlichen Wortfetzen gingen im Jubel unter.